top of page
Suche
  • AutorenbildWalter B.

LDL

Ich streune durch die Gegend, überall finde ich diese drei Buchstaben LdL und ich denke mir nur wtf. Wofür stehen diese Buchstaben, was sagen sie aus? Keine Ahnung, kein Plan, keine Idee, kein Leben,… Das bin ich, Mitte dreißig, Mindestsicherungsbezieher mit Gelegenheitsjobs, studiert aber nutzlos… Hier bin ich, liebes System, dein perfekter Nischenmensch…. Es ist kurz nach halb sechs am Abend. Ich steige in die Straßenbahn, bekomme einen Sitzplatz, setze mich. Ich blicke durch den Waggon, ein buntes Treiben fährt mir entgegen, alte Menschen, junge Menschen, dicke Menschen und nicht ganz so dicke Menschen, Menschen mit Brille, langhaarige und kurzhaarige, Kappenträger, Punks, Geschäftsleute, Mütter mit Kindern, Hipster und Tätowierte. Dicht auf dicht drängen sich die Massen aneinander. Ich bin glücklich über meinen Sitzplatz, etwas Freiheit um dieses Treiben aufsaugen zu können. Neben mir eine recht hübsche, junge Dame, ich traue mich kaum sie genauer zu betrachten, da vor mir eine etwa 86-jährige Pensionistin mit grimmigen Blick sitzt. Der Blick fällt in die Kategorie „durchdringend, unnachgiebig“, also lieber nicht anschauen. Die Straßenbahn hält, Leute steigen aus, neue kommen, das klassische „Rein-Raus“-Spiel. Ich genieße den Moment des Wechsels, ein Jugendlicher mit Piercings hüpft durch die Tür, während sich der alte Mann mit Gehstock aus dem Waggon quält. Es ist ein bisschen wie in einer Tierdokumentation, die Menschen sind wie die Tiere, welche von einem Ort zum nächsten ziehen auf der Suche nach Raum, Lebendigkeit und purem Genuss. In all dieser Unwirklichkeit steigt fast unbemerkt ein kleiner, schmächtiger Junge ein. Er trägt lange Kleidung, obwohl es viel zu warm ist, er benimmt sich unauffällig, schüchtern, seine Gestalt wirkt grau und blass in all meinem bunten Treiben.

Ich bin ein klassischer „Nischenmensch“,und als solcher zähle ich mich mehr zur Kategorie: ständig bereit, nie abrufbar, und auf jeden Fall - fehl am Platz. Die meisten Menschen übersehen mich, da ich ausschaue wie jeder andere und kaum einmal Dinge tue, die du nicht auch gemacht hättest. Ich bin wie ein Geist, den keiner will, hoffentlich tauche ich nie auf, und wenn ich da bin, will man mich rasch loswerden.

Ein recht großer, massiger Typ setzt sich ihm gegenüber. Zunächst schaut er sein Opfer nur an, wie eine Schlange, die auf den richtigen Moment wartet. Auf den Moment zuzubeißen, ohne Gnade und ohne Chance auf Flucht.

Der kleine Junge wagt es nicht ihn anzuschauen, er blickt nur still auf den Boden. Ein Tritt gegen sein Schienbein, ein stechender Schmerz, der ihm Tränen in die Augen steigen lässt, keiner unternimmt etwas. Ich unternehme nichts. Ich verharre, beobachte, reagiere „situationsgerecht nichtsentscheidend“. Der kleine Junge schluckt den Schmerz hinunter, ein typischer Nischenmensch, in seiner Ursprungsart.

Es folgt ein weiterer Tritt, härter auf die gleiche Stelle. Es schmerzt noch mehr, Wut steigt in ihm auf. Tränen tropfen auf den Straßenbahnboden, keiner hilft oder sagt etwas. Sind wir wirklich so ignorant, so unglaublich blind und ohne Helfer-Gen ausgestattet? Generation Smartphone halt: Dr. Google weiß bestimmt, wie man sich verhalten soll. Was sollen unsere Kinder und deren Kinder nur lernen, wenn wir als ignorante Menschen mit Scheuklappen durchs Leben schreiten und keine Konfrontation annehmen? „In Stille verweilen und bloß nicht auffallen.“ Danke Dr. Google. Ich kann nur von mir selber sprechen: Ich ertrage den Anblick, greife aber lieber nicht ein, möchte nicht erkannt werden, will nicht, dass jemand über mich redet, oder mit dem Finger auf mich zeigt. Was ich möchte? Ganz einfach, am Ende des Tages möchte ich zuhause, alleine meine Werbemails löschen, meinen Instantkaffee trinken und mein Fertiggericht aus der Mikrowelle essen. Mein Instagram-Status zeigt, dass ich unauffindbar bin und wenn man mich kontaktieren möchte, dauert es eine gefühlte Ewigkeit, bis ich reagiere. That‘s my life…. So what?

Der kleine Junge schluchzt gerade, ich kann es bis hierher hören, du fragst dich, was passiert ist?

Der massige, bullige Typ hat ihm gerade auf die Hose gespuckt, es ist ekelhaft, disgusting, doch was soll man tun? Runterschlucken, Abputzen, so tun, als wäre nichts gewesen, und dennoch ist es gerade geschehen und der bunte Haufen im Waggon schaut einfach nur zu, mich inkludiert. Ein alter Mann schnauzt den Typen an und sagt ihm, dass es unverschämt sei, sich so zu benehmen. Der hat mit seinen gefühlten hundert Lebensjahren mehr Zivilcourage als wir alle hier zusammen in der Straßenbahn. Doch die Antwort des ekelhaften Widersachers ist einfach und effektiv: „Halt‘s Maul, du alter Sack, oder willste eine in die Fresse?“ Na immerhin kann er sich schlagkräftig ausdrücken, dieser junge Wilde, denke ich und wende meinen Blick von dem kleinen Jungen ab.

Erst jetzt entdecke ich das gemalte LdL auf dem Nachbarsitz, verflixt denke ich mir, was soll bloß dieses verfluchte LdL?

Ein blonder Junge mit blauen Augen, sicher nicht älter als fünf, steigt mit seiner Mutter ein. Er setzt sich neben mein kleines Nischenich und schaut es mit großen Augen an.

Mister Disgusting eröffnet wieder das Feuer und beschimpft ihn vulgär, aber ausdruckslos. Er wirft ihm Wörter an den Kopf und man spürt, dass diese Worthülsen am kleinen Jungen abprallen, wie eine ganze Salve aus einer Maschinenpistole, die man auf Wolverine abfeuert. Doch jeder Buchstabe schmerzt.

Die Menschen hören hin, sie hören weg, keiner will sich einmischen, doch dann steht dieser kleine, blonde Junge auf, nimmt den kleinen Jungen an der Hand und flüstert ihm etwas ins Ohr… Es blickt zum ersten Mal seit Langem wieder auf, Tränen laufen über seine Wangenknochen, doch als es in die blauen Kulleraugen schaut, fängt es an zu lachen. Die beiden lachen gemeinsam von ganzen Herzen, und der große, ekelhafte Typ läuft kreidebleich an.

Damit hat keiner gerechnet, ein kleiner Junge, so ehrlich und unantastbar, mit mehr Vernunft und Courage als all die „Otto Normalverbraucher“ in dieser Straßenbahn, ist wohl der Menschlichste von uns allen hier. Danke Anstand und danke, Vernunft.

Meine Station kommt, ich muss gleich aussteigen, doch eine Sache interessiert mich noch. Ich gehe zu dem blauäugigen Kulleraugenjungen und frage ihn, für mich total untypisch, was er dem anderen Jungen gesagt hat. Mister Blauäugig deutet mir, dass ich mich zu ihm beugen soll. Langsam halte ich ihm mein Ohr hin, und er flüstert mir diese Worte ins Ohr: „ Liebe das Leben!“

Meine Station ist da, mein buntes Treiben hat ein Ende… Ich bin dann mal weg.


36 Ansichten0 Kommentare

Aktuelle Beiträge

Alle ansehen

Halloween

Untitled

bottom of page